Wacken abgesagt und eine Ersatzveranstaltung im Videostream. Das Coronajahr 2020 stellt die Veranstaltungsbranche auf den Kopf und zwingt auch das bekannteste Metal-Festival der Welt zu unkonventionellen Maßnahmen. Ein Erlebnisbericht aus dem heimischen Wohnzimmer.
Warnung: Dies ist ein Meinungsbeitrag / Kommentar und kein objektiver Bericht. Kann Spuren von Heimweh, Sarkasmus und ganz viel Alkohol enthalten.
Das Bier ist kaltgestellt und der Jacky ist im Froster. Ich überlege den Grill anzuwerfen, da meine direkten Nachbarn allerdings im Urlaub sind, wäre ich allein. Ist wohl besser so. Denn spätestens wenn ich um 20 Uhr die Boxen aufdrehe, würden sie sich nach einer neuen Wohnung umsehen.
Dieses Jahr ist, dank Corona, alles anders. Auch das Wacken Open Air. Statt einem großen Festival mit zehntausenden Besuchern gibt es ein Online-Event mit Archivaufnahmen, vorproduzierten Konzertvideos und live gestreamten Auftritten. Normalerweise hätten wir zu Beginn des Festivals unsere Presseausweise abgeholt, das Camp errichtet und wären dann in Richtung Holy Ground aufgebrochen. Immerhin wird es auch weniger stressig – Kein Gehetze von Bühne zu Bühne um die Bands zu fotografieren, kein Bilder bearbeiten bis tief in die Nacht.
Aber auch keine Freunde und Kollegen treffen, die jedes Jahr aus aller Welt nach Wacken pilgern um zu feiern oder, wie Natalie und ich, dort zu arbeiten. Flach fallen leider auch die unglaublich guten Bands und die bekloppten Spontanaktionen auf dem Festivalgelände bei dem „normale“ Menschen nur den Kopf schütteln würden. Kein „normales“ Wacken dieses Jahr.
Diese Erkenntnis schmerzt. Jetzt zum eigentlichen Termin genau so wie an dem Tag, als die Absage kam.
Stefan, unser Herausgeber und Admin, der an einem „normalen“ Wacken an der Technik sitzt und unsere Bilder hochlädt, hatte da einen Vorschlag: Ich solle doch einfach einen Bericht „Wacken von zu Hause“ schreiben. Erst habe ich noch verneint. Baustelle, Laminat verlegen bei einen Kumpel, Geburtstagsfeier meiner Partnerin. Ich bin schon froh, wenn ich überhaupt einen Teil der Übertragung sehen kann.
Trotz voller Terminkalender hatten Natalie und ich beschlossen, heute zu Beginn des Streams wenigstens eine Tradition aufrecht zu erhalten. Ganz im Gedenken an Lemmy Kilmister stoßen wir jedes Jahr mit einem Jacky-Cola an, sobald wir auf Wacken ankommen. Diesmal nicht an der Rainbow Bar, sondern jeder bei sich daheim.
Also warum nicht auch einen Erfahrungsbericht schreiben? Erwartet bitte nicht unsere üblichen, stets aktuell bebilderten Konzertberichte. Ich lasse mich selbst überraschen, was nun folgt und frage mich auch, ob ich später noch nüchtern genug zum Schreiben bin.
Nur eines weiß ich sicher: Wacken fehlt mir. Und nicht nur mir. Sondern tausenden anderen auch, die wie ich jetzt vor ihren Geräten sitzen und darauf warten, dass der Timer bei 00:00 angekommen ist – und endlich bekannte Klänge aus den Boxen kommen.
Tag 1 – Mittwoch, der 29. Juli 2020
Der Timer hat 00:00 erreicht, zwei Werbungen später kommt die Meldung gleich gehts los. Der Becher ist gefüllt und nie war das Motto passender: „Wacken – You Never Drink Alone“. Nach mehren Versuchen ging sogar der Stream – zwar schlecht, mit Aussetzern und Störungen, aber es ging. Ein Hoch auf den deutschen Breitbandausbau.
Stilecht wurde dann mit meiner Co-Fotografin Natalie und einem Jacky-Cola angestoßen – per Video-Chat. Mit diversen Bands vom Metal-Battle, kurzen Interviews und Konzertaufnahmen ging dann auch der Steam los.
Bereits nach den ersten Liedern fühlte ich mich fast wie vor Ort. Selten hat man als Fotograf auf dem Festival Zeit, mehr als die ersten drei Lieder der Bands zu verfolgen. Um 18:10 Uhr gab es dann ein kurzes Interview mit den Wacken-Gründern Thomas Jensen und Holger Hübner, bevor es dann mit Motor Sister weiter ging. Während der Tonaussetzer wurde über Telefon fleißig das Auf- und Abziehen des Mundschutzes der Sängerin diskutiert.
Auch ein beliebtes Thema während des Streams waren verschiedenste Konzerterlebnisse von uns Fotografen – von fast verbrannten Haaren bis zu Eisenstangen kurz vor dem Kopf. Ja, wir leben nicht unbedingt ungefährlich auch wenn es auf Wacken bisher meistens entspannt war. Das verdanken wir zumeist dem sehr guten Team von Graben-Crew und Security – an dieser Stelle ein Gruß an die „Jungs“.
Gegen 19:40 Uhr fanden wir sogar den ersten „HELGA“-Post auf Facebook. Langsam kam auch in den sozialen Netzwerken Festivalstimmung auf. Danach ging es weiter dem ersten Höhepunkt des Abends – Anthrax in der Home Office Edition. Allerdings kam schnell die Frage auf: Warum in aller Welt haben die nur einen 20-Minuten-Slot? Immerhin hat dieser ausgereicht, dass meine Nachbarn gegenüber angefangen haben ihre Koffer zu packen.
Es folgte ein Ein-Stunden-Slot Body Count feat. Ice-T und ich schickte das selbe Stoßgebet zum Himmel wie schon bei ihrem Auftritt auf dem „normalen“ Wacken 2019: Hoffentlich setzt sich das nicht durch! Mit etwas Verspätung begann Wacken-Urgestein Doro ihren Auftritt, seit 1993 ununterbrochen auf Wacken mit dabei (egal ob als Künstlerin oder einfach so). Und mal ganz ehrlich: In einem Strandkorb gepflegt zum Metal abfeiern hat doch auch was – wie das Publikum bei Doros Autokino-Konzert bestätigte.
Wie brachial gut man mit einem virtuellen Publikum interagieren kann, zeigte der Sänger von Eskimo Callboy bei ihrem Slot. Auch mit dem neuen Sänger marschiert die Band ordentlich vorwärts und spätestens jetzt verdrückt wohl jeder der Zuschauer ein Tränchen im Gedenken an den heiligen Acker. Spätestens seit „Hypa Hypa“ hassen mich meine Nachbarn endgültig. Dabei haben sie nicht einmal diese genialen Bilder vor Augen wie ich. Auch wenn besonders bei diesem Song auffällt, dass der Stream vorproduziert ist (Zauber-Instant-Klamottenwechsel), das Feeling kommt auf jeden Fall rüber. Des weiteren überzeugt uns auch die gute, knackige Songauswahl und der mittlerweile einwandfrei laufende Stream.
Nach einer kurzen Anmoderation von Kafka ging es mit Long Distance Calling verdammt chillig weiter. So schön die Musik ist – es war definitiv der falsche Slot. Am Ende zum abschalten und gemütlich einschlafen: Perfekt. Aber jetzt? Wenn ich meinen Schreibtischstuhl zurück gestellt hätte, wäre ich vermutlich eingepennt. Zum Ablenken schauen wir mal auf FB vorbei. Die meisten Kommentare drehen sich um die etwas ruhigere Musik zu später Stunde und es blitzt ab und an die Frage nach dem Moderator durch. Oder genauer: Warum moderiert Harry eigentlich nicht? Wenn wir schon dieses Jahr ohne seine Videos auskommen müssen, warum dann ihn nicht wenigstens als Moderator?
Weiter ging es mit einer Handvoll Fünf-Minuten-Slots. Spätestens bei der Kategorie „Guitar Clinic“ und dem Auto Guitar Tutorial von Brian Tatler drängte sich die Frage auf: Was soll das? Ob dies als Ersatz beziehungsweise Ergänzung zu den Workshops gedacht war, die sonst auf dem heiligen Acker stattfinden, wissen wir nicht.
Danach ging es mit einer weiteren „Guitar Clinic“ weiter, einem der kurzen Solo-Gitarren-Einschübe. Damit fing zu später (und betrunkener) Stunde das Rätseln an: Wer war das? Stimmt der Zeitplan noch? Und warum stürzt gerade jetzt der Stream bei uns ab? Nach ca fünf Minuten ging er dann wieder und mit Cody Ford gab es weiter reine Gitarren Musik.
Weiter ging es mit einer Video-Weltpremiere: Schandmaul und D’artagnan sagen gemeinsam den Song „Die Tafelrunde“ aus ihrem aktuellen Album „Artus“.
Das Ende des Abend bildeten The Rise Of Mictlan. Die Jungs aus Mexiko erzählten zu Beginn aus ihrer Jugend, von Musik und von Wacken. Was genau? Keine Ahnung. Weder ist mein Englisch besonders gut, noch war ich nüchtern genug zum Zuhören. Nach dem Erzählteil gab es ihren eigenen Black Metal im optischen Stil der Azteken.
Interessant anzuhören und aufgrund der Outfits vermutlich noch sehr viel interessanter zu Fotografieren. Auch wenn ich vor Ort wohl nicht mehr als die drei Lieder, die wir für eine Band Zeit haben, ins Hören hätte investieren können.
Damit war nun auch der erste digitale Wacken-Tag für mich vorbei. Was habe ich erwartet? Viel Metal. Das wurde definitiv erfüllt, auch wenn nicht alles meiner Stilrichtung entsprach und es einige Slots gab, bei denen ich nicht weiß was ich davon halten sollte.
Neben der Musik habe ich vor allem auch wieder mit Kollegen (Video-)telefoniert oder geschrieben, die ich seit Beginn der Coronakrise nicht gehört oder gelesen habe. Und ich habe eines zweifellos gemerkt: Ich bin nicht der Einzige, der eigentlich nur nach Hause will. Heim zu Seinesgleichen, dorthin wo man sich am wohlsten fühlt. Auf den Holy Ground. Heim in das kleine Dorf, das für eine knappe Woche der Mittelpunkt der Welt für jeden Fan des Heavy Metals ist.
Werde ich mir morgen den Stream wieder geben? Auf jeden Fall! Egal wie das Wohnzimmer dann aussieht. Die anderen Tage werde ich auch irgendwie hinbekommen. Egal ob es der Geburtstag meiner Freundin ist. Im Notfall eben mit Kopfhörern übers Handy. Wird wieder genauso viel geschrieben? Glaub ich eher weniger, schon aus Zeitgründen.
Und egal ob dieser Text jemals das Licht unserer Homepage erblickt, noch nie war der Satz auf dem Becher wichtiger und richtiger als in der jetzigen Zeit. You Never drink Alone.
Rain or Shine.
Tag 2 – Donnerstag, der 30. Juli 2020
Es ist fast 21 Uhr als ich den Stream endlich anschalte. Irgendwie hat nichts nach Plan funktioniert. Den Stream über Handy hören war trotz 4G und genug Datenvolumen eine reinste Katastrophe. Meine Nachbarn sind auch aus dem Urlaub zurück und drücken mir als erstes ein Bier in die Hand – wenigstens auf die ist Verlass.
Ein Blick auf den Zeitplan zeigt mir, dass ich es noch halbwegs pünktlich zu In Extremo auf der neuen XR Stage geschafft habe. Mein erstes Live-Konzert 2020 – Corona meint es mit uns Konzertfotografen wirklich nicht gut. Schnell was aus den Froster in die Mikrowelle und das nächste Bier aufgemacht.
Festivals in der Home Edition sind echt schwierig zu planen, denn der „normale“ Alltag läuft weiter und manche verstehen auch nicht, dass solche Events eigentlich heilig sind. Der Stream läuft, das Essen ist warm und – das Handy klingelt. Ein genervter Blick auf das Display wandelt sich in helle Freude. Eine gute Freundin, die ich fast nur noch auf Wacken sehe, ruft an. Sie ist auf den Heimweg von der Arbeit und hört über Headset mit.
Wir lassen uns darüber aus, dass wir jetzt viel lieber auf Wacken wären als daheim. Die nächste halbe Stunde gibts zum Stream dann Erinnerungen und Geschichten aus unseren vergangenen Wacken-Jahren. Kurz danach klingelt wieder das Telefon. Diesmal die Freundin, die ihre aktualisierte Geburtstagsplanung durchgibt. Wenigstens dieses Mal zu meinen Wacken-Gunsten.
Dabei fällt mir natürlich ein, dass ich noch eine wichtige Mail rausschicken muss. Verdammt. Wacken genießen ist heute einfach nicht drin. Die Nachteile der Home-Office-Edition zeigen sich heute deutlich. Klar, das eigene Bett, richtige Duschen und Toiletten sind viel wert. Aber das Genießen ist im Alltag einfach nicht so drin. Trotz Urlaub.
Am Telefon entbrennt eine Diskussion warum es gerade so schlimm ist, dass Wacken ausgefallen ist. E-Tropolis, WGT, Amphi und unzählige kleinere Festivals schmerzen mich nicht ansatzweise so sehr wie Wacken. Nach dem Telefonat schaue ich auf den Stream. Es laufen Archivaufnahmen von Nightwish. Die Mail muss immer noch raus. Festivalstimmung will heute einfach nicht aufkommen.
Kurz darauf meldet sich Natalie. Sie hat festgestellt, dass sie von den heutigen Bands immerhin schon Foreigner, Heaven Shall Burn, In Extremo und Nightwish in den letzten Jahren fotografiert hat. Eben auch jenes Konzert von 2018, das wir gerade im Stream schauen. Ein bisschen Nostalgie kommt da schon auf, gleichzeitig aber auch die Freude, die man anhand der guten Bilder im Fotoarchiv empfindet. An dieser Stelle ist es doch ganz praktisch, dieses Konzertfotografen-Dasein.
Heaven Shall Burn haben ihr vorhin jedenfalls verdammt viel Spaß gemacht. Die Band kommt sowieso sympathisch daher, hat dieses Jahr mit „Of Truth And Sacrifice“ aber auch ein verdammt gutes Album auf den Markt gebracht. Da sie auf der neuen XR Stage gespielt haben, nutzten wir die Chance gleich für eine Runde „Ich sehe was was du nichts siehst“. Bangen da Kühe in der Simulation!?
Zurück in den Live-Stream: Es ist mittlerweile nach 23 Uhr und es folgt ein 15-Minuten-Slot von Michael Monroe. Und wir zermartern uns das Hirn darüber, wer das nochmal war. Da sie morgen früh gen Norden aufbricht, verabschiedet sich Natalie mit den Worten: „Trinke nicht zu viel“. Zu spät. Der Weg zum Kühlschrank ist kürzer als der zum nächsten Bierstand oder gar in den VIP-Bereich auf Wacken.
Dabei fällt mir ein: Wie mag es eigentlich meiner blonden Lieblings-Bedienung aus dem VIP-Bereich gehen? Seit fünf Jahren bekomme ich jedes Mal morgens von ihr meine Bestellung Kaffee und Jacky Cola. Und ich kann mir ihren Namen immer noch nicht merken. Was macht sie wohl dieses Jahr? Wie verbringt sie Wacken? Schaut sie auch den Stream? Oder genießt sie die Ruhe vor komischen Betrunkenen, die witzig sein wollen und gestressten Fotografen?
Und wie geht es den glorreichen Securities, die immer den VIP- und Pressebereich bewachen? Ob das Lama-Stofftier, welches seit Jahren auf Wacken dabei war und dann dreister Weise gestohlen wurde, wieder aufgetaucht ist? Vielleicht hat sich ja auch ein würdiger Ersatz gefunden. All diese Kleinigkeiten, die man in den letzten Jahre als selbstverständlich erlebt hat, gewinnen viel an Wert dieses Jahr. Ob wir wohl nächstes Jahr mehr Wertschätzung zeigen, wenn wir zurück auf dem Acker sind?
Ende der Sentimentalität und zurück in den Stream. Udo und Sven von U.D.O. grüßen aus Spanien. An Temperaturen stehen wir ihnen in nichts nach. In Wacken waren es heute laut Wetter-App „nur“ 18°C. Das heißt, heute Nacht hätten wir definitiv den Schlafsack zugemacht. Oder, auch eine bekannte Strategie vieler Wacken-Besucher, einfach mehr Hochprozentiges getrunken.
Der Blick geht wieder zum Stream. Alcatrazz spielen in einer geteilten Video-Aufzeichnung von zu Hause aus. Wie gestern schon bei Anthrax hat es einen gewissen Charme. Natürlich wäre mir die Live-Bühne lieber gewesen, aber so ging es wohl allen Stream-Zuschauern. Wie groß ist eigentlich der technische und logistische Aufwand so etwas zu produzieren und zusammen zu schneiden? Ein Konzert, klar, den Aufwand kenne ich. Ein Musikvideo: Hab ich auch schon erlebt. Aber sowas?
Wie ist es mit dem „Stream-Wacken“ generell? Wie viele Stunden mögen Bands und Organisations-Team da im Vorfeld wohl investiert haben? Wie viel Herzblut, damit wir heute anstatt gar nichts immerhin einen Stream erleben können? Und wie viele tausend Menschen aus aller Welt hängen gerade wie ich vor ihren Bildschirmen?
Die Mühe muss wertgeschätzt werden. Aber tun wir es auch? Will ich mir wirklich die Stimmung vermiesen und heute noch in die sozialen Medien schauen? Lieber nicht. Wobei gestern auch sehr viel positives dabei war. Am frühen Abend scheinen sich viele begeistert geäußert zu haben. Viele teilen auch ihre jeweiligen Parties oder Setups zum Stream schauen, ein Beamer auf die Hauswand scheint der Trend zu sein.
An dieser Stelle glaube ich, kann man einfach mal ein FETTES DANKE sagen an alle, die mitgewirkt haben. Von den Musikern über Technik-Crews bis hin zum Orga-Team. Ohne euch hätten tausende Metal-Fans heute vermutlich nur einen der ruhigen Abende verbracht, von denen es coronabedingt schon viel zu viele gibt. Ihr habt etwas auf die Beine gestellt, das es bisher noch nicht gab. Ihr macht es für alle kostenfrei zugänglich. Ihr macht es möglich, trotz Corona einen Metal-Abend zu genießen. Einfach nur DANKE!
Halb 12. Das letzte Konzert für heute Abend fängt an. Russkaja. Ich erinnere mich genau wie ich sie 2017 auf der Party Stage fotografieren konnte. Es war das erste Mal, dass ich sie überhaupt live erlebt habe. Die Verrückten aus Österreich waren damals wirklich meine Band. Ich weiß noch wie ich mir extra einen Slot hintendran freigeschaufelt hatte, damit ich mehr von ihnen sehen konnte als nur drei Lieder. Das bereue ich bis heute nicht. Die Stimmung! Die Party! Bemerkenswert was diese Band auf die Bühne stellt. Wer die Chance hat sie mal live zu sehen, sollte hingehen. Die paar Bilder, die es online geschafft haben, werden dem Konzert nicht im Ansatz gerecht. Aber das ist leider oft so.
Es schmerzt richtig, eine solche Band in einen leeren Club spielen zu sehen. Bei „Psycho Traktor“ denke ich sofort wieder an den Circle Pit vor Ort. Ich hätte mich damals zu gern reingeworfen. Aber nicht mit meinen Kameras. Trotz der Rücksicht der Wackener viel zu riskant. Und ich weiß auch nicht wie ich das der Versicherung hätte erklären könnte. Und es war auch niemand da, dem ich sie einfach hätte in die Arme drücken können. Doch die Chance wird wieder kommen. Wenn nicht in Wacken dann in Mannheim, Frankfurt oder Karlsruhe. So im Stream will der Funke von Russjaka nicht Recht auf mich überspringen und das schmerzt dann doch sehr.
Ich sage eigentlich nur eines: Haltet euch an die AHA Regeln, ich will nächstes Jahr wieder nach Wacken! Galtet euch an die einfachen Regeln, damit wir so etwas nie wieder erleben müssen. Keine Band der Welt sollte vor leeren Hallen spielen müssen, kein Fan das Konzert nur auf dem Bildschirm verfolgen können.
Kurz nach 12. Ich gratuliere meiner Freundin zum Geburtstag. Der erste Geburtstag an dem sie mich wirklich für sich hat. Sonst bin ich meist direkt nach dem „Alles Gute zum Geburtstag“ ins Auto gestiegen und nach Norden gefahren. Wacken war mir schon immer heilig. Ob der Geburtstag dieses Jahr, mit mir, so wird wie sie es sich erhoffte? Ich springe in die Aufzeichnung von Alice Cooper, die ich heute Nachmittag nicht sehen konnte.
Wacken 2013. Mein erstes Wacken als Fotograf. Cooper fotografierte ich damals nicht, dafür war ich zu „klein“. 15 Bands habe ich damals online geschafft – alleine. Mit Natalie zusammen habe ich letztes Jahr in der gleichen Zeit 61 Band online gebracht. Auch die Qualität der Bilder ist ein riesiger Unterschied. Zum Besseren. Was hätten wir dieses Jahr geschafft? Noch mehr Bands? Noch bessere Qualität? Natürlich auch mehr Stress. Es wird jedes Jahr stressiger, trotzdem wollen wir jedes Jahr mehr schaffen. Im Moment noch mehr als sonst.
Mir fehlt das Adrenalin im Fotograben. Das Gefühl, wenn tausende Stimmen hinter einem singen und man selbst zum Teil keinen Meter weit von den Musikern weg ist. Man steht mit den Kolleginnen und Kollegen dicht an dicht, hält trotzdem zusammen und hilft sich wenn mal die Kamera streikt oder der Akku leer ist.
Beim Fotografieren ist man auf der Jagd nach dem Bild. Nach dem Bild, auf das man stolz ist und sagt: Das habe ich geschossen! Dabei ist es egal ob es im Internet erscheint, in einem Magazin, in einer Tageszeitung oder ob es nur daheim die Wohnzimmerwand ziert weil es der Redakteur (warum auch immer) abgelehnt hat. Das ist der Grund warum viele das machen. Das ist der Grund warum ich das mache.
Ich pausiere die Aufzeichnung und hole mir noch etwas zu trinken. Noch so ein Vorteil vom Wacken World Wide. Überwiegen die Vorteile aber die Nachteile? Auf keinen Fall. Eine Veranstaltung wie Wacken Word Wide kann die „richtigen“ Festivals nicht ersetzen. Es mag eine Ergänzung sein oder ein Ersatz für die, die nicht hin können. Eine wirkliche Alternative ist es nicht und wird es wohl zu meinen Lebzeiten auch nicht werden.
Bei Minute 39 ist der Ton weg. Es sind zwar nur 20 Sekunden, aber es reicht um mich aus meinen Gedanken zu reißen. Noch ein Nachteil von Streams. Wenn auf Wacken mal der Ton weg war, überbrückte der Gesang des Publikums die Pause. Es war halt live. Bei einer Aufzeichnung ist es schon ärgerlicher.
Mit „School’s Out“ endet die Aufzeichnung und damit auch mein zweiter Wacken-Abend im Home Office. Und Damit auch mein Wacken Abend Home Office die zweite. Rain or Shine, ich werde morgen weiter schauen.
Tag 3 – Freitag, der 31. Juli 2020
Mein Blick wandert zur Uhr. Halb 10 am Morgen. Normalerweise laufen wir gerade über den Campingplatz in Richtung Pressebereich, um uns Tagespässe für die großen Bühnen zu sichern und die Bilder vom Vortag zu bearbeiten. Der Morgen läuft besser als erhofft. Ich habe sogar etwas Zeit, um mir die Aufzeichnung vom Heaven Shall Burn Konzert anzuschauen. Das Handy vibriert. Ein Kumpel braucht heute Nachmittag Hilfe. Ich sage direkt Nein. Nicht heute.
Der Blick geht zum Stream. Er ist wieder eingefroren und lädt sich tot. Das Wacken Word Wide ist nur etwas für Leute mit gutem Internet. Genervt breche ich den Stream ab. Es ist sowieso kurz vor 10 und ich muss weiter. Heute aber leider nicht auf den Holy Ground so wie sonst um diese Zeit.
Kurz vor 18 Uhr. Nichts lief wie geplant. Also wie immer. Selbst die Technik mag mich heute nicht. Als endlich die vertrauten Geräusche von Arch Enemy aus dem Laptop kommen, bin ich beruhigt. Die bessere Internetleitung bei meiner Freundin macht sich schon auf Anhieb deutlich bemerkbar.
Ich schaue auf die Timetable was ich verpasst habe. Nichts was mich wirklich interessiert. Es drängt sich aber die Frage auf was Alligatoah da zu suchen hatte? Ein Abendessen später komme ich zu „Fear Of The Dark“ von Iron Maiden wieder an den Laptop. Ich lasse mich aufs Bett fallen und könnte direkt einschlafen. Festivalstimmung heute? Noch weniger als gestern.
Beyond The Black beginnen auf der XR Stage und meine Freundin kommt dazu um zu schauen, was an dem XR so besonders ist. Wir wollen die verschiedenen Funktionen mal durchprobieren aber entweder kann mein Laptop es nicht leisten oder es funktioniert nicht richtig. Meine VR-Brille habe ich letztes Jahr meiner Schwester geschenkt, da ich es nicht vertrage. Eventuell hat sie ja mehr Erfolg damit.
Eine gemeinsame Freundin ruft an. Wir videotelefonieren eine Ewigkeit. Auch bei ihr läuft das W:W:W im Hintergrund. Als wieder aufgelegt wird, läuft schon Ross The Boss. Von Blind Guardian habe ich nur am Rande etwas mitbekommen. Ich lasse noch Fiddler’s Green im Hintergrund laufen als ich mich bettfertig mache. Den Abspann lasse ich noch laufen und freue mich über die Clips der feiernden Metalheads aus der ganzen Welt bevor auch für mich der Tag endet.
Tag 4 – Samstag, der 1. August 2020
Kurz vor 16 Uhr baue ich wieder meinen Laptop auf und mache mir einen Kaffee. Wow, ich schaffe es zum zweiten Mal pünktlich zum Stream. Der Timer kommt bei 0 an und ich bekomme die bekannte Fehlermeldung: „Es ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen sie es später noch einmal.“ Wenigstens weiß ich jetzt, dass es nicht nur an meinem Dorfinternet liegt.
Bei Powerwolf läuft alles stabil und die Festivalstimmung kommt langsam auf. Bis das Handy anfängt zu klingeln. Ich sollte mir angewöhnen, es bei solchen Sachen am besten direkt auszuschalten. Oder aus dem Fenster zu werfen, je nach Wichtigkeit der Band. Die Laptop-Variante offenbart, trotz viel besserer Internetleitung, immer mehr Nachteile. Die Akustik passt nicht, die Lautstärke erst recht nicht, mit Kopfhörern bin ich hier räumlich noch mehr eingeschränkt und ich kann nicht auf mehreren Bildschirmen schauen.
Der Versuch, den Stream auf dem Fernseher der Freundin laufen zu lassen, funktioniert auch nicht. Nochmal in den Konzertbildern der Vorjahre zu schwelgen oder in den sozialen Medien zu schauen, was andere zu den Konzerten sagen, wird heute nur in Ausnahmefällen passieren.
Meine Freundin beschwert sich unterdessen, dass Wacken bei ihr zu Hause damals nicht Teil des Deals war, als sie mich zum Freund erwählte. Meine Antwort: „Dann bin ich halt nächstes Jahr wieder in Wacken.“ Ihr Konter: „Mal sehen was Corona dazu sagt.“ Verdammt Recht hat sie, also haltet euch an die AHA-Regeln!
In der Zwischenzeit wurden Aufnahmen aus der Wacken-Historie gezeigt. Bei den Bildern von In Extremo und den Scorpions denke ich an mein allerersten Wacken 2006. Das T-Shirt von damals trage ich noch heute mit Stolz.
Das erste XR-Konzert des Abends ist Hämatom. Ich probiere es nochmal mit den 360-Grad-Ansichten. Diesmal kann ich den projizierten Wacken-Tower sehen und den Wacken-Schädel von hinten. Etwas reinzoomen geht aus diesen beiden Positionen auch noch aber das war es schon. Entweder bin ich zu dämlich dafür oder mir fehlt die technische Ausrüstung.
Ist mir egal, jetzt wird der Biervorrat dezimiert und das Konzert genossen. Die Aussage von Sänger Torsten passt aber wie die Faust aufs Auge: „Die Scheiße nervt“. Ihre neue Single „FCK CRN“ kannte ich noch gar nicht. Der Song passt genauso wie die Aussage davor. Wollen wir hoffen, dass der Refrain wahr wird. Zwischendurch geht die Wohnzimmertür auf: Cool, ich bekomme das Gegrillte geliefert weil weiter hinten das Wlan nicht reicht!
Nach dem Konzert von Hämatom gibt es einen kleinen Einblick in die Technikabteilung und es wird erklärt, wie die Beiträge und Zoomaufnahmen der Zuschauer „in das Konzert“ kommen. Auch ein XR -Artist erklärt, was sie so eingebaut haben – die headbangenden Kühe zum Beispiel.
Mit Sabaton gab es eine Premiere, eine nicht-deutsche Band auf der XR Stage. Mir drängten sich dabei zwei Fragen auf: Wie hat man die Band aus Schweden hierher bekommen und warum gab es zu ihrem Interview keine deutschen Untertitel? Den Bühnenvordergrund fand ich für Sabaton-Verhältnisse arg leer. Mir fehlten da Sandsäcke, Stacheldraht und sonstige Deko, die bei dieser Band eigentlich üblich sind.
Die Technik der XR Stage wurde dagegen voll ausgenutzt. Darstellungen wie eine zerstörte Stadt, Kampfflugzeuge oder Panzer zwischen Ruinen kamen in der Mixed-Reality-Technik richtig gut zur Geltung. „Noch ein Bier“ durfte während des Auftritts natürlich auch nicht fehlen. Und so schnell konnte ich mir kein Bier aus dem Kühlschrank holen wie die Band ihre weggeext hatte.
Nach einem Trailer ging es mit der Aufzeichnung der Legende weiter. Gesendet wurde der Ende 2015 von uns gegangene Lemmy Kilmister, genauer gesagt der Auftritt seiner Band Motörhead bei Wacken 2011. Ich hatte leider nie das Glück ihn zu fotografieren, konnte ihn aber vier Mal auf Wacken sehen. Beim ersten Mal im Jahr 2006 bin ich sogar während des Konzertes auf dem Infield vor Erschöpfung eingeschlafen. Das muss man erstmal schaffen! Mir blutete auch das Herz, als das 2013er-Konzert nach dem sechsten Lied abgebrochen werden musste. Ich bereue bis heute, dass ich 2014 keinen Pit-Pass zum Fotografieren von Motörhead ergattern konnte. Lemmy wird trotzdem immer einen Platz in meinen Metal-Herzen haben.
Es folgt Maschines Late Night Show. Auch so einen, den ich vom Namen kenne, aber dessen Show auf Wacken ich nie gesehen habe. Er spricht mit den Gründern Holger Hübner und Thomas Jensen über die „Mini Wacken“, die stattgefunden haben, und die Entstehung des W:W:Ws. Die Late Night Show lasse ich im Hintergrund laufen, während ich noch ein wenig durch die Wacken-Homepage klicke und dabei erst die App zum W:W:W finde.
Gesendet wurde auch noch der Horror-Trailer mit den ersten Bands für das nächste Jahr. Danach folge ein Feature zu Lordi, die gut zum Thema Horror passen. Während Lordi durch ihre Heimat führen, schaue ich nach, wann das einzige Konzert war, das ich bisher von ihnen erlebt habe. Es war im April 2013 in Mannheim und ich erinnere mich genau an den Steg, den sie gebaut hatten und der den Graben teilte. Krabbeln für gute Fotos. Ob das in Wacken wieder so wird? Eher unwahrscheinlich. So lustig ich Lordis Führung durch die Heimat fand, so langweilig finde ich das „Konzert“. Es erinnert mich eher an eine Probe. Damit endet auch dieser Wacken-Abend für mich und auch mein erstes virtuelles Wacken Open Air.
Rückblick und Fazit – Sonntag, der 2. August 2020
12:30 Uhr. In einem normalen Jahr wäre ich gerade auf den Weg nach Hamburg, um dort bei einer Freundin die Bilder fertig zu machen, ein paar Stunden zu schlafen und dann nachts nach Hause zu fahren.
Normal war an diesem Wacken nichts. Schon alleine wenn ich hier über die Menge an Geschriebenen schauen, merke ich das überdeutlich. Die letzten Tage mit dem W:W:W waren auf jeden Fall viel stressiger als gedacht. Das Stream-Event in den Alltag zu integrieren war doch schwieriger als vermutet.
Andere sehen nicht unbedingt, dass man sich auf die Streams konzentrieren will. „Die kannst du doch irgendwann später immer noch anschauen“, ist eine der wiederkehrenden Aussagen. Das Stimmt, aber will ich das? Will ich das ein Festival, auch wenn es auf einer hochmodernen XR Stage stattfindet, irgendwann später anschauen?
Die Zeit, um so etwas bewusst zu erleben, muss man sich freihalten. Am besten mit einschließen, Telefon und Klingel abstellen – und das wird im Alltag kaum möglich sein. Wenn man allerdings vor Ort auf einem „richtigen“ Festival ist, ist man dort auch komplett aus seinem Alltag raus. Genau das fehlt von zu Hause aus eben.
Klar, das eigene Bett, das eigene Badezimmer und mehr Schlaf sind Vorteile. Es ist aber mangels Alltagsflucht nicht so erholsam, wie wirklich dort zu sein. Es war ein anderes Wacken. Ganz sicher besser alles nichts und ich bin erstaunt, was die Macher alles auf die Beine gestellt haben. Es gab schon einige Online-Ersatzveranstaltungen, aber keine hatte bisher das Niveau von Wacken Word Wide.
W:W:W wird nun der Standard sein, an dem sich andere Online-Großveranstaltungen messen lassen müssen. Eine Alternative für die Nach-Corona-Zeit sind solche Events aber nur für die, die aus Geld- oder familiären Gründen nicht hin können. Ein Ersatz für das echte Wacken kann W:W:W nicht sein.
Trotz der interessanten Erfahrung würde ich mir nicht unbedingt weitere Streams ansehen, wenn ich warum auch immer nicht auf das Festival kann. Zumindest dann nicht, wenn der Stream (oder ich selbst) immer wieder unterbrochen werde. Das holt einen dann doch sehr aus dem Festival-Feeling heraus.
Mein drei Lehren aus W:W:W sind:
1. Schön, dass es das gegeben hat, auch wenn es keine dauerhafte Alternative ist.
2. Auch für ein Online-Festival muss man sich bewusst Zeit nehmen.
3. Hoffentlich gibt es nächstes Jahr wieder ein „richtiges“ Wacken – Rain or Shine!
Bericht: Sven Bähr, Sven(at)dark-festivals.de