Wolfram von Eschenbach. Vielen sagt dieser Name auf Anhieb nichts und noch weniger konnten ihn auf der Eintrittskarte des diesjährigen Wave Gotik Treffens (WGT) entziffern.
Der deutsche Dichter, sein bekanntestes Werk war „Parzival“, starb um 1220 und sollte 2020 sein 800. Todesjahr begehen. Daher wählten die Veranstalter ihn zusammen mit einer Harfe und einem Schwert als Logo für die Karten des Wave Gotik Treffens 2020.
Bekanntlich fand 2020, Corona sei Dank, aber gar kein Wave Gotik Treffen statt. Die Veranstalter behielten das Motiv jedoch bei und druckten es auf die Karten des 29. WGT, das – mit zwei Jahren Verspätung – wieder über das Pfingstwochenende in Leipzig über die zahlreichen Bühnen ging. Was dieses Jahr los war erzählt euch dieser Bericht.
Fotolinks: Teil 1 (02. und 03. Juni) / Teil 2 (04. und 05. Juni)
Donnerstag, der 02.06.2022
Trotz Corona pilgerten wieder tausende Anhänger der Schwarzen Szene zu Pfingsten nach Leipzig, um sich und ihr Wave-Gotik-Treffen zu zelebrieren. Dass dieses Jahr einiges anders war als zuvor merkte man nicht nur an den vielen Mund-Nasen-Schutze in der Bahn, die bei den meisten Festivalbesuchern passend zum restlichen Outfit schwarz waren. Man merkte es auch an dem relativ vielen Platz in der Linie 11, die am Donnerstag zum Agra-Gelände führte.
Dort war doch noch einiges anders als in den Jahren vor Corona. Man hatte den Eindruck, dass der Campingplatz leerer war und sich die Leute auch nicht so stark auf den Hauptwegen drängten.
Genauso wie früher waren dafür die freudigen Gesichter all derer, die sich endlich wieder sahen, die gute Stimmung auf dem Gelände und die verschiedenen schwarzen Musikrichtungen, die aus den Campingburgen drangen.
Auch Noctulus nahm am Donnerstagabend wieder seinen Platz ein und beschallte die Besucher des Geländes mit seiner Musik und seinen Geschichten, egal ob sie es wollten oder nicht.
Wer sich ihn nicht antun wollte, hatte die Auswahl zwischen den klassischen Warm-Up-Partys im Darkflower, der Mortiz Bastei oder in der Agra 4.2. Auch der Felsenkeller und der Kätz Club waren dieses Jahr schon Donnerstags mit am Start. Mit hochkarätigen DJs wie Mark Benecke oder Elvis wurde bis früh in die Morgenstunden gefeiert bevor es zurück ins Zelt oder Hotel ging.
Freitag, der 03.06.2022
Der Freitagvormittag stand ganz im Zeichen der individuellen Erholung. Diese bestand bei manchen aus Kater auskurieren im Zelt, bei anderen vielleicht aus einem ausgiebigen Frühstück im Hotel oder dem Nutzen des reichen Kulturangebots des WGT.
Im WGT-Bändchen war wieder der Eintritt in viele Museen enthalten. Den Besuchern standen unter anderem das Grassimuseum oder das Ägyptische Museum offen. Auch gab es wieder diverse szenespezifische Ausstellungen. Bei dem Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen gab es zum Beispiel eine Sonderausstellung zum Thema Gruftis in der DDR. Am Hauptbahnhof gaben Künstler aus Mexiko unter dem Thema „Nekropole aus den Schatten“ ihre Werke zum Besten.
Das Highlight des Tages war aber das Viktorianische Picknick im Clara-Zetkin-Park. Wobei man das viktorianische langsam streichen sollte. Schon über eine Stunde vor dem eigentlichen Beginn war jedes schattige Fleckchen im Park von picknickenden Menschen besetzt. Egal ob diese der Schwarzen Szene angehörten oder nicht. Die eigentlichen viktorianischen Outfits, die dem Picknick seinen Namen geben, waren allerdings die absolut verschwindende Minderheit.
Dominierend waren dieses Jahr eindeutig die „normalen“ Menschen, die sich das Spektakel anschauen wollten. Trotzdem gab es wieder sehr schöne Outfits aller Gothic-Stilrichtungen. Viele zeigten sehr gerne den Leipziger Einheimischen, was sie die letzten zwei Jahre in ihren Kleiderschränken versteckt hatten. Auch gab es wieder viele individuelle Sehenswürdigkeiten von der selbstgebauten Tafel bis zum umgebauten Hot Rod.
Für viele Leipziger ist das Viktorianische Picknick mittlerweile das Markenzeichen des WGTs. So kamen viele dafür extra an diesem Freitag in den Park. Andere sahen es zum ersten Mal. Doch alle zusammen bestaunten die Vielfältigkeit der Kleidung und der Menschen in der Schwarzen Szene.
Musikalisch konnte man sich aussuchen was man hören und sehen wollte. Wollte man eher die härteren Klänge, ging man zu Devil-M, Blitz Union oder Sulpher in den Felsenkeller. Neigte man zu den elektronischen Klängen, war man mit Terrorfrequenz, Basszilla oder Noisuf-X im Haus Leipzig genau richtig.
Komplett unterschiedliche Stilrichtungen gab es diesmal in der Agra. Angefangen bei Letzte Instanz (Rock) über Solar Fake (Synth-Pop) bis zu IMAX (Mischung aus Synth Pop, Dark Cabaret und Industrial) sollte bei diesem ersten Konzertabend jeder etwas finden.
Bei vielen Partygängern sorgte der nachts einsetzende Regen allerdings für ein Umplanen. So ging es dann nicht zu den Partys ins Darkflower, den Felsenkeller oder in eine der anderen Locations, sondern bei manchen lieber zurück ins Hotel. Dies führte zu einer interessanten Mischung in den Straßenbahnen: Gruftis, Besucher des Gothic Pogo Festivals mischten sich dort unter Gäste des Leipziger Stadtfestes.
Samstag, der 04.06.2022
Am Samstagvormittag stand beim Wave Gotik Treffen der Aspekt des Treffens im Vordergrund, weniger der des Musikfestivals. So machten sich die Besucher zum Schwarmtreffen der Gothic-DJs, dem Leichenwagen Treff am Südfriedhof oder zum Steampunk Picknick auf.
Letzteres war dieses Jahr auch anders als in den Jahren zuvor. Das eigentliche Steampunk Picknick war weniger Wochen vorher von den Veranstaltern abgesagt worden.
Die zeitreisende Community organisierte aber ruck zuck ein Ersatzpicknick inklusive zweier Zeitreise-Ämter. Das Picknick fand auf einer öffentlichen Wiese beim Zoo statt. Damit war es zwar auch öffentlich für alle zugänglich, aber durch die Kurzfristigkeit deutlich kleiner als das am Vortag stattfindende Viktorianische Picknick.
Die Mehrheit der Anwesenden waren Steampunker, die mit diversen Umbauten an sich und ihren Gegenständen die Leipziger (und vor allem deren Kinder) verzückten. Durch die geringe Größe kam man auch viel schneller mit den Leuten ins Gespräch und tauschte zum Beispiel Ideen für das eigene Outfit aus. Auch das massenhafte ungefragte Fotografieren gab es dort so gut wie gar nicht. Dadurch stellte sich viel schneller der Treffen-Charakter der Veranstaltung ein.
Wer den Nachmittag im Heidnischen Dorf verbringen wollte hatte diesmal leider weniger Glück. Schon zu Vroudenspil war die Schlage zum Einlass extrem lang. Auch drinnen herrschte dichtes Gedränge. Auffallend war, dass hier dieses Mal deutlich weniger „normale“ Besucher als sonst unterwegs waren und eindeutig mehr schwarzes Volk.
Musikalisch hatte man auch an diesem Tag wieder die Qual die Wahl. Ging man zu L’Âme Imortelle in den Felsenkeller oder zu Die Art ins Stadtbad? Die meisten WGT-Besucher entschieden sich allerdings für die Agra.
Bei Welle:Erdball war es schon so voll, dass Sänger Honey es kaum wahrhaben wollte. Viele Fans strömten zum ersten richtigen Welle:Erdball-Konzert seit zwei Jahren. Noch voller wurde es allerdings zum Headliner des Abends: VNV Nation. Zeitweise gab es sogar Einlassstop in die Agra Halle. Wer es rechtzeitig in die Halle geschafft hatte, konnte Sänger Ronan Harris in Höchstform erleben. Spätestens bei „Nova“ und dem Lichtermeer in der Halle hatte auch der letzte Zuhörer Gänsehaut.
Die anschließenden Partys wurden von der Obsession Bizarr dominiert. Unter strikter Altersbeschränkung und Kleiderauflagen trafen sich dort wieder Anhänger der BDSM- und vieler weiterer Szenen zu Shows und Party. Moniert wurde allerdings, dass die Linie 31 dieses Mal nicht gefahren ist und ab einer gewissen Uhrzeit, spät in der Nacht, kein Fortkommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln mehr möglich war.
Sonntag, der 05.06.2022
Am Sonntag winkte neben den Lesungen von Christan von Aster in der Beuteltier-ART Galerie und Sebastian Fitzek in der Agra Halle 4.2 auch wieder die Weinverkostung vor dem Grassimuseum. Bei diesem nicht offiziellen Programmpunkt trafen sich zum sechsten mal Freunde des Weines um ihren selbst mitgebrachten Lieblingswein mit anderen zu teilen und selbst neue Weine zu entdecken. „Gastgeber“ Thomas Rainer war natürlich mit von der Partie und unterhielt sich mit vielen Freunden des edlen Tropfens.
Aufgrund des (noch) wunderschönen Wetters brachten einige ihre Picknickdecken mit. Unter den Bäumen des Parks vor dem Museum konnte man daher viele kleine Grüppchen sich unterhaltender und trinkender WGT-Besucher erblicken.
Musikalisch ging es an diesem Tag für viele Anwesende zurück zu den Klassikern ihrer Jugend. Mit Clan Of Xymox, Lacrimosa oder S.P.O.C.K. war so manche Band zu sehen und zu hören, die ihren großen Start in den 90er-Jahren hingelegt hatte. Anhänger der elektronischen Musik zog es nach Leipzig-Plagwitz ins Täubchenthal, wo sie unter anderem Nullvektor und Winterkälte erwarteten.
Von den Konzerten her bot der Sonntag noch etwas ganz besonderes: Das einzige Mitternachtsspezial des 29. WGT. Dieses bestritt im Agra-Treffenpark niemand anderes als Gary Numan, ein Pionier des Elektro- beziehungsweise Synthie Pops. In der gut gefüllten Halle spielte der Brite Stücke von seinem aktuellen Album „Intruder“ von 2021, aber natürlich auch die Songs aus längst vergangenen Zeiten.
Montag, der 06.06.2022
Der letzte Tag des Wave Gotik Treffens 2022 startete nicht nur mit einer unklaren Wetterprognose, sondern auch mit Bandabsagen. Dass Faderhead nicht auftreten würden, war vielen schon am Samstag bekannt. Damit der Slot nicht leer bleiben würde, konnten die Veranstalter kurzfristig Battle Scream gewinnen. Für die Absage von Unzucht konnte so kurzfristig aber kein Ersatz gefunden werden, sodass der letzte Slot im Felsenkeller leider leer blieb.
Programm gab es trotzdem noch mehr als genug. Im Heidnischen Dorf gab es schon zu Waldkauz kaum noch ein schattiges Plätzchen, das noch nicht belegt war. Von dort und vor der Bühne lauschten die Besucher der Pagan-Folk-Band aus Deutschland.
Wer Kinder dabei hatte, für den war der Anlaufpunkt neben den Geschichtenerzählern auch auch das Theatrum Diaboli, das Tanzwut Marionettentheater. Dort begeisterten die Spielleute von Tanzwut mit ihren selbst gebauten Puppen nicht nur die ganz kleinen Besucher, sondern auch die im Geiste jung gebliebenen.
Die gute Laune im Heidnischen Dorf wurde leider von einem einsetzenden Regenschauer getrübt. Zwar hatten viele damit gerechnet oder sich sogar nach einer Abkühlung gesehnt, trotzdem leerte sich der Markt doch ziemlich schnell. Pünktlich zu Haggefuug schien dann aber wieder die Sonne.
Diejenigen, die den Regen zum Shoppen nutzen wollten, hatten weniger Glück. Zwar waren noch einige Stände in der WGT Szenemesse aufgebaut, aber auch von diesen wurden manche schon zusammengepackt. Die in diesem Jahr sowieso überschaubare Anzahl an Ständen wirkte dadurch noch geringer.
Dass die Pforten der Verkaufshalle schon um 21 Uhr geschlossen wurden, war für viele Besucher auch sehr überraschend. Zwar wurden die, die schon drin waren, nicht aktiv hinauskomplimentiert. Von außen war aber kein Einlass mehr.
Musikalisch ging an diesem Tag im Täubchental der Horrorpunk ab, unter anderem mit Hellgreaser und Nim Vind. Trotz der Absage von Unzucht fanden die Anhänger des Rocks mit Schöngeist, Erdling und Stahlmann genügend Gründe in den Felsenkeller zu fahren.
Freunde der härteren Elektronik fanden im Agra-Treffenpark wieder ihre Heimat. Dort spielten neben Battle Scream, dem Ersatz für Faderhead, auch Grendel und zum Abschluss Combichrist. Die vier Musiker beendeten auf dem WGT den ersten Teil ihrer diesjährigen Europatournee.
Wer nach den vier Tagen voller Programm noch nicht genug hatte, konnte jetzt noch auf einer der vielen Closing- beziehungsweise Abschlusspartys seine letzte Energie heraustanzen.
Abschluss
Dieses WGT war anders. Nicht nur war es für viele von uns (Bands, Besucher, auf dem Festival arbeitendes Volk) das erste Festival seit zwei Jahren, sondern auch das lange erwartete Treffen vieler Freunde und Gleichgesinnter.
Auch wenn es im eigentlichen Herz des Festivals, dem Agra-Gelände, deutlich leerer war als sonst, so waren die Treffen umso freundlicher.
Nicht nur lagen sich beim Wiedersehen Freunde in den Armen, die aus unterschiedlichen Ländern stammten. Auch die, die entfernungstechnisch „eigentlich“ sehr nahe wohnen hat man herzlich begrüßt. Dass das WGT eben das Wave Gotik Treffen ist (und nicht ein x-beliebiges Musikfestival) stand für viele absolut im Vordergrund. Der Aspekt mit dem Treffen wurde viel mehr wertgeschätzt als früher.
Der Negativpunkt schlechthin war dieses Jahr das „viktorianische“ Picknick. Mit viktorianisch hat das für mich nichts mehr zu tun. Wenn ich nur daran denke wie viele Bilder bei mir in der virtuellen Tonne gelandet sind wegen Leuten, die einfach durchs Bild gelaufen sind, sich mit ihren Handys fotografiert oder filmend daneben gestellt haben oder sonst auf unhöfliche Art gestört haben, dann möchte ich immer noch Schreien.
Das Positivbeispiel war das privat organisierte Steampunk Picknick. Nicht nur, dass sich dort die meisten an die einfachsten Formen der Höflichkeit gehalten haben. Man hatte dort auch Zeit und Lust um mit Gleichgesinnten zu Fachsimpeln und das, was andere gebaut haben, auch zu würdigen.
Was mir dieses Jahr fehlte waren allerdings die vielen Kleinigkeiten, die das WGT die vergangen Jahre so mit sich gebracht hatte. Zum Beispiel die Ansagen in den Bahnen oder das Willkommen heißen an den Tafeln der Leipziger Verkehrsbetriebe.
Bericht: Sven Bähr, Sven(at)dark-festivals.de